Wie sie dort unsicheren Schrittes auf die Bühne kommt, diese winzige Frau mit ihren 94 Jahren, umsorgt von ihrem Sohn und ihrem Enkel, ist es kaum vorstellbar, was sie sich als Programm für diesen Abend vorgenommen hat. Ein Stuhl, ein Tisch, ihr Manuskript – und schon brandet der erste Beifall auf. Allein deshalb, weil sie dorthin gekommen, ist, weil eigentlich alle wissen, dass sie gesundheitlich angeschlagen ist – und sie dennoch den festen Willen hat, auch diesen Abend so eindringlich wie möglich zu gestalten und ihre Botschaft weiter zu verbreiten. Kultusminister Grant Hendrik Tonne lauscht sie, der von ihrem tiefen Pflichtgefühl spricht, dem sie sich seit Jahrzehnten verschrieben hat – dem Pflichtgefühl, ihre eigene Geschichte zu erzählen, dafür insbesondere in Schulen zu gehen, und das auf inspirierende Art und Weise zu tun. Was das bedeutet, welche Inspiration von ihr ausgeht, zeigt sie wenig später, als das Rednerpult beiseite geräumt ist und die Bühne ihr allein gehört. Mit nahezu kargen Worten beschreibt Esther Bejarano, wie sie im Viehwaggon nach Auschwitz kam – damals, im April 1943. Beschreibt dann ihre Erlebnisse im Lager und dass sie meint, nur deshalb überlebt zu haben, weil sie sich meldete, als die Lagerleitung Mädchen suchte für ein Orchester. Sie wird Teil dieses Orchester, als sie den damals aktuellen Schlager „Du hast Glück bei den Frau‘n, Bel Ami” auf dem Akkordeon vorspielt, muss nun nicht mehr im Arbeitsdienst Steine von einer Stelle zur anderen schleppen und weiß doch bis heute nicht, wie sie das Grauen überstand, wenn sie als Teil des Mädchen-Orchesters immer dann nahe der Rampe Musik machen musste, wenn Züge mit Menschen eintrafen, die direkt in die Gaskammern geführt wurden. Esther Bejarano hat all das überlebt und sagt: „Ich hatte doch nahezu die Pflicht, aus Auschwitz herauszukommen, um späteren Generationen davon zu erzählen!” Dieses Erzählen macht sie auf bemerkenswerte Art. Die Lesungen sind das eine, was sie tut. Im Hintergrund haben aber auch an diesem Abend – wie an rund 350 anderen Abenden allein in den vergangenen drei Jahren – ihr Sohn Jorem Bejarano und ihr angenommener Enkel Kutlu Yurtseven gestanden – bereit, mit dieser faszinierenden Persönlichkeit als „Microphone Mafia” auch noch ein Konzert zu gestalten. Das Konzert, das ist eine Mischung aus Liedern jiddischer und hebräischer Herkunft, Liedern in Deutsch und in anderen Sprachen. Traditionell setzt Esther Bejarano ihren Gesang ein. Eine klare Stimme hat sie immer noch und den unbändigen Willen, solch ein Konzert aufrecht stehend zu gestalten. Den rappenden Part der Lieder übernimmt Yurtseven. Das kommt näher an die jungen Menschen im Publikum heran und ist Programm bei dieser Band. Programm ist auch die Message: „Nie wieder Krieg” entrollen die beiden Männer als Banner über dem Kopf ihrer Sängerin. Yurtseven ruft auf, nicht zu schweigen – Schweigen gebe solchen wie den Nazis die Chance, so mächtig zu werden, wie es damals geschah. Und zu schweigen, das fange schon in der Schule an. Mobbing, sagt er, funktioniere nicht, weil drei Leute das täten, sondern dann, wenn der Rest der Klasse dazu schweige. Schweigen – das tun die drei Musiker auf der Bühne nicht. Der Schlager, der ihr in Auschwitz das Leben rettete, jener über „Bel Ami”, ist einer der letzten Songs, die das Trio singt. Da hat das gesamte Publikum sich bereits mehrfach von den Plätzen erhoben, hat geklatscht und gejohlt, um die Leistung dieser Band zu würdigen und ihnen in dem, was sie mitteilen, zuzustimmen. Ganz zum Ende spielen sie „Wir leben trotzdem”. Das Trotzige dieses Songs und dieses Aufbegehren gegen das Schweigen, indem Esther Bejarano selbst nicht schweigt, erklärt ihr Enkel dann noch: „Dass sie das tut, liest, singt, spielt – das ist ihre späte Rache an den Nazis.” Eine weiße Rose und eine rote Nelke gibt es als Dank von Sonja Merkert, Lehrerin der IGS Nienburg, die die Fäden in der Hand hatte bei allen Vorbereitungen. Bücher signiert Esther Bejarano im Anschluss. Dann erst lässt sie sich in ihren Sessel zurücksinken und gesteht: „Jetzt bin ich doch ein bisschen geschafft!” Foto: jan